moderne Architektur.

moderne Architektur.
modẹrne Architektur.
 
Der Protest gegen Stilnachahmung und Historismus sowie die Veränderung der sozialen Strukturen der Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts waren in Europa und Amerika die auslösenden Faktoren für die experimentelle moderne Architektur; ihre wesentlichen Aufgaben, die Entwicklung einer neuen Formensprache, neuer Raumkonzeptionen und die Einführung neuer Konstruktionsverfahren und Materialien, konnte die moderne Architektur durch die Auflösung des Widerspruchs von künstlerisch-ästhetischem Schaffen und technisches Denken, d. h. durch Umsetzung ästhetischen Wollens in die technische Produktionsprozesse erfüllen. Die neuen Bedingungen des Wohn- und Siedlungsbaus (besonders durch das Hochhaus), der Industriebauten und Verwaltungsgebäude (Bürohaus), der Sakralbauten (Kirchenbau), der Kulturzentren und Sporthallen, der Verkehrs- (Brücken, Bahnhöfe, Autobahnen, Untergrundbahnen, Flughäfen) und Stadtplanung konnten durch die Verwendung von Stahl und Beton (Stahlbetonbau), von großen Glas- (Glasarchitektur) und Aluminiumflächen, von Kunststoffen sowie von serienmäßig konstruierten Fertigteilen die Auffassung von Architektur und ihre Formensprache im Sinne des Funktionalismus revolutionieren.
 
Lässt man die Entwicklungstendenzen in der Ausbildung der Stahlskelettbauweise des 19. Jahrhunderts unberücksichtigt, so kann der Beginn der modernen Architektur auf die Zeit um 1890 festgelegt werden. L. H. Sullivan und die Chicagoer Schule brachten mit ihrer Forderung, dass die Form immer der Funktion zu entsprechen habe, einen neuen Kanon des Bauens ein: Die Baugestalt soll architektonisch Ausdruck der Struktur sein. Die Tendenz zu klar gegliederten und aus der Funktion entwickelten Baukörpern zeigten auch die europäischen Richtungen des Jugendstils (P. Behrens, H. van de Velde, O. Wagner, J. M. Olbrich, A. Loos, J. Hoffmann, V. Horta, H. P. Berlage, C. R. Mackintosh), des Deutschen Werkbundes, des Bauhauses und der Stijl-Gruppe. Das kubische, horizontale, sachlich-nüchterne Prinzip setzte sich Mitte der 1920er-Jahre gegenüber gegenläufigen Tendenzen (etwa dem Expressionismus einiger Bauten von P. Behrens, E. Mendelsohn, H. Poelzig, B. Taut) durch. Des Weiteren kann der Begriff des »organischen Bauens« (organische Architektur), wie er von F. L. Wright in Amerika konzipiert wurde, als Maxime für alle bedeutenden Schulen und Architekten des 20. Jahrhunderts gelten. W. Gropius begründete in seinem architektonischen und pädagogischen Werk eine neue Auffassung vom Architekten, von dessen sozialer Verantwortung und der Notwendigkeit der Kooperation eines Teams bei großen architektonischen Aufgaben. L. Mies van der Rohe strebte in seinen Vorstellungen von Kubus und »fließendem Raum« (Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona, 1929; Neue Nationalgalerie in Berlin, 1962-67) mit der klaren Trennung von tragenden und nicht tragenden Elementen die reine Form an (Seagram Building in New York, 1954-58).
 
Le Corbusiers Architekturästhetik drückte sich zunächst in den geometrischen Formkategorien seiner Wohnhäuser aus (zwei Stelzenhäuser mit flachen Dächern und Dachgärten in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, 1927), später in der Entwicklung plastischer Formvorstellung im Gesamtplan eines Gebäudes (Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, 1950-54) und im sozialen und architektonischen Organismus seiner städtebaulichen Konzeptionen mit »Wohnmaschinen« für über 1 000 Bewohner (z. B. die als »vertikale Gartenstadt« konzipierte »Unité d'Habitation« in Marseille, 1947-52). Die von ihm mitbegründete Architektenvereinigung CIAM erarbeitete wichtige Leitsätze für Architektur und Stadtplanung. A. Aaltos humane Architektur öffnete sich der Natur und Landschaft (Finnisches Pavillon der Weltausstellung in Paris, 1937), berücksichtigte die natürlichen geologischen Gegebenheiten (Wohnanlagen in Sunila, 1936-39) und bezog das individuelle Lebensgefühl des einzelnen Menschen in der Gesellschaft ein. Diese Faktoren kennzeichnen den geistigen Prozess, der für die moderne Architektur im Wesentlichen bestimmend wurde. Ihr internationaler Durchbruch erfolgte mit den v. a. in den 20er-Jahren entwickelten Stileigentümlichkeiten (internationaler Stil), und zwar in den USA in den 30er-Jahren (v. a. in New York und Chicago), in den lateinamerikanischen Ländern in den 40er-Jahren (v. a. Brasilien und Mexiko) und in den 50er-Jahren in Japan. An der modernen Architektur dieser Länder wird besonders deutlich, dass neben den übergreifenden Kriterien des modernen Stils auch die jeweiligen Lebensbedingungen und die tradierten Bautypen von großem Einfluss waren.
 
In den 50er-Jahren wurden innerhalb der modernen Architektur neue Impulse wirksam, die unter dem Namen Brutalismus zusammengefasst werden. Sie sind bereits spürbar in Wrights Verwaltungsgebäude der Johnson Wax Factory in Racine, Wisconsin (1936-39 und 1949) sowie in einigen Werken Le Corbusiers. Der Brutalismus ist eine Reaktion auf die glatte und geometrische Formenwelt und die Routine des internationalen Stils, eine Erneuerung der experimentellen modernen Architektur und ihres funktionalen und organischen Denkens. Daneben entwickelten sich weitere Strömungen. Während die »Funktionalisten« (u. a. E. Saarinen, P. Johnson) dazu tendieren, die aus der Funktion eines Bauwerks abgeleitete Form stärker hervorzuheben, legen die »Strukturalisten« (u. a. L. I. I. Kahn, G. Candilis, A. E. van Eyck, H. Hertzberger) besonderen Wert auf die Beziehungen der einzelnen Funktionsbereiche innerhalb bestimmter Ordnungsmuster. Die von A. Rossi begründete rationale Architektur macht die Auseinandersetzung mit architektonischen und städtebaulichen Grundelementen und Gesetzmäßigkeiten zur Basis ihrer Entwürfe (Einflüsse u. a. auf Bauten von J. P. Kleihues, O. M. Ungers, R. und L. Krier und der Tessiner Schule).
 
Zur Kennzeichnung der Richtung der zeitgenössischen Architektur, die auf Elemente früherer Stile zurückgreift (R. Venturi, C. W. Moore, R. Stern, J. Stirling, Isozaki Arata, P. Portoghesi, P. Johnson), übernahm der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks (* 1939) 1975 den recht vielschichtigen Begriff Postmoderne. Als Spätmoderne bezeichnet er eine Strömung, die die Architektur der 20er-Jahre weiterentwickelt, z. B. The New York Five, Hightech (Lord N. Foster, R. Rogers u. a.). Der Beginn einer neuen Architektursprache zeichnete sich mit der Architektur des vom russischen Konstruktivismus inspirierten Dekonstruktivismus ab, der durch Asymmetrie und schräge Flächen nicht nur das Gefühl des Schwebens zu vermitteln sucht, sondern die konstitutive Bedingung allen Bauens, ihr Verhaftetsein in statischen Gegebenheiten, zum Gegenstand fiktionalen Ausdrucks macht (F. O. Gehry, Zaha M. Hadid, P. Eisenman, R. Koolhaas, B. Tschumi, Coop Himmelblau u. a.). Wachsende Bedeutung kommt dem ökologischen Bauen zu.
 
 
N. Huse: Neues Bauen. 1918-1933 (1975);
 V. Magnago-Lampugnani: Architektur u. Städtebau des 20. Jh. (1980);
 A. M. Vogt u. a.: Architektur 1940-1980 (1980);
 C. Jencks: Spätmoderne Architektur (a. d. Engl., 1981);
 C. Jencks: Architektur heute (a. d. Engl., 1988);
 C. Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur (a. d. Engl., 31988);
 
Vision der Moderne - das Prinzip Konstruktion, hg. v. H. Klotz u. a., Ausst.-Kat. (1986);
 H. Klotz: Moderne u. Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980 (31987);
 H. Klotz: Kunst im 20. Jh. Moderne - Postmoderne - zweite Moderne (1994);
 L. Benevolo: Gesch. der Architektur des 19. u. 20. Jh., 3 Bde. (41988);
 C. Davies: High-Tech Architektur (a. d. Engl., 1988);
 A. Moravánszky: Die Erneuerung der Baukunst. Wege zur Moderne in Mitteleuropa 1900-1940 (Salzburg 1988);
 
Weltgesch. der Architektur, Bd.: Gegenwart u. Bd.: Klass. Moderne, Beitrr. v. M. Tafuri u. a. (a. d. Ital., 1988);
 
Dekonstruktivismus, hg. v. A. Papadakis (a. d. Engl., 1989);
 J. Joedicke: Architekturgesch. des 20. Jh. Von 1950 bis zur Gegenwart (Neuausg. 1990);
 Moderne Architektur in Dtl. 1900 bis 1950, hg. v. M. Lampugnani u. a., auf mehrere Bde. ber. (1992 ff.);
 K. Frampton: Die Architektur der Moderne. Eine krit. Baugesch. (a. d. Engl., 51995);
 L. Gerster: Zur Architektur der sogenannten Mitte. Bauen im Zwiespalt mit der Tradition u. im Zwiespalt mit der Moderne oder Architektur zw. Tradition u. Moderne (1995);
 C. Gavinelli: Die Neue Moderne. Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jh. (a. d. Ital., 1997).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Architektur nach 1945: Siegeszug der Moderne
 

Universal-Lexikon. 2012.

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